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Dietrich Bonhoeffers Theorie der Dummheit

Quelle: youtu.be/wnhL1W9dj1w
Transkript:
„Es war das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte, eine Zeit, in der ein aufgestachelter Mob Steine in Schaufenster unschuldiger Ladenbesitzer warf und Frauen sowie Kinder auf grausame Weise und auf offener Straße gedemütigt wurden. In dieser Zeit begann der junge Pfarrer Dietrich Bonhoeffer, sich öffentlich gegen die Grausamkeiten zu äußern. Nachdem er jahrelang versucht hatte, die Menschen zum Umdenken zu bewegen, kam er an einem Abend nach Hause und sein eigener Vater teilte ihm mit, dass zwei Männer in seinem Zimmer warteten, um ihn festzunehmen. Im Gefängnis begann Bonhoeffer darüber nachzudenken, wie sich sein Land der Dichter und Denker in ein Kollektiv von Feiglingen, Gaunern und Verbrechern verwandelt hatte. Er kam letztendlich zu dem Schluss, dass die Wurzel des Problems nicht Bosheit, sondern Dummheit war. In seinen berühmten Briefen aus dem Gefängnis vertrat Bonhoeffer die Ansicht, dass die Dummheit ein gefährlicherer Feind des Guten sei als die Bosheit. Denn während man gegen das Böse protestieren und es durch den Einsatz von Gewalt aufdecken und verhindern kann, sind wir gegen die Dummheit wehrlos. Weder Proteste noch Gewaltanwendung bewirken hier etwas. Argumente stoßen auf taube Ohren.
Fakten, die dem Vorurteil eines dummen Menschen widersprechen, braucht man einfach nicht zu glauben. Und wenn sie unwiderlegbar sind, werden sie einfach als unwichtig, als nebensächlich beiseite geschoben.

Bei all dem ist der dumme Mensch selbst zufrieden. Er ist leicht reizbar und wird gefährlich, wenn er auf Angriff geht. Aus diesem Grund ist im Umgang mit einem dummen Menschen größere Vorsicht geboten als mit einem Bösartigen. Wenn wir wissen wollen, wie wir die Dummheit überwinden können, müssen wir versuchen, ihr Wesen zu verstehen. So viel ist sicher: Dummheit ist im Grunde kein intellektueller, sondern ein moralischer Defekt. Es gibt Menschen, die intellektuell bemerkenswert beweglich sind und dennoch dumm erscheinen, und andere, die intellektuell stumpf, aber alles andere als dumm sind. Man hat weniger den Eindruck, dass Dummheit ein angeborener Defekt ist, sondern dass Menschen unter bestimmten Umständen dumm werden oder besser gesagt, dass sie es zulassen, dass dies mit ihnen geschieht. Menschen, die in Einsamkeit leben, zeigen diesen Defekt seltener als Individuen in Gruppen. Es scheint also, dass Dummheit weniger ein psychologisches als ein soziologisches Problem ist. Es zeigt sich, dass jeder starke Machtzuwachs, sei er nun politischer oder religiöser Natur, einen großen Teil der Menschheit mit Dummheit infiziert. Es ist fast so, als sei dies ein soziologisches, psychologisches Gesetz, wonach die Macht des Einen die Dummheit des Anderen braucht.
Der Prozess, der hier am Werk ist, besteht nicht darin, dass bestimmte menschliche Fähigkeiten wie der Intellekt plötzlich versagen. Vielmehr scheint es so zu sein, dass der Mensch unter dem überwältigenden Einfluss der steigenden Macht seiner inneren Unabhängigkeit beraubt wird und mehr oder weniger bewusst seine autonome Position aufgibt. Die Tatsache, dass der dumme Mensch oft stur ist, darf uns nicht von der Tatsache ablenken, dass er nicht selbstbestimmt ist. Wenn man sich mit ihm unterhält, hat man fast das Gefühl, dass man es gar nicht mit ihm als Person zu tun hat, sondern mit Parolen, Schlagworten und dergleichen, die von ihm Besitz ergriffen haben. Er ist wie verhext, verblendet, wird benutzt und in seinem Wesen missbraucht. Der so zum willenlosen Werkzeug gewordene Dumme ist auch zu allen bösen Taten fähig, und er erkennt nicht, dass es böse ist. Nur ein Akt der Befreiung, nicht der Belehrung, kann die Dummheit überwinden. Hier müssen wir uns mit der Tatsache abfinden, dass eine echte innere Befreiung in den meisten Fällen erst dann möglich wird, wenn ihr eine äußere Befreiung vorausgegangen ist. Bis dahin müssen wir alle Versuche aufgeben, den dummen Menschen zu überzeugen. Bonhoeffer wurde wegen seiner Beteiligung an einem Komplott gegen Adolf Hitler im Morgengrauen des neunten April 1945 im Konzentrationslager Flossenbürg hingerichtet, nur zwei Wochen vor der Befreiung des Lagers durch Soldaten aus den Vereinigten Staaten.“
* * *

„Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag.“
– Dieses Gedicht schrieb Dietrich Bonhoeffer 1945 im KZ Flossenbürg, kurz vor seiner Ermordung durch die Nationalsozialisten.

 

*1 Original Text aus Bonhoeffers Brief: „Dummheit ist ein gefährlicherer Feind des Guten als Bosheit. Gegen das Böse läßt sich protestieren, es läßt sich bloßstellen, es läßt sich notfalls mit Gewalt verhindern, das Böse trägt immer den Keim der Selbstzersetzung in sich, indem es mindestens ein Unbehagen im Menschen zurückläßt. Gegen die Dummheit sind wir wehrlos. Weder mit Protesten noch durch Gewalt läßt sich hier etwas ausrichten; Gründe verfangen I nicht; Tatsachen, die dem eigenen Vorurteil widersprechen, brauchen einfach nicht geglaubt zu werden – in solchen Fällen wird der Dumme sogar kritisch -, und wenn sie unausweichlich sind, können sie ein- fach als nichtssagende Einzelfälle beiseitegeschoben werden. Dabei ist der Dumme im Unterschied zum Bösen restlos mit sich selbst zufrieden; ja, er wird sogar gefährlich, indem er leicht gereizt zum Angriff übergeht. Daher ist dem Dummen gegen- über mehr Vorsicht geboten als gegenüber dem Bösen. Niemals werden wir mehr versuchen, den Dummen durch Gründe zu überzeugen, es ist sinnlos und gefährlich. […] Um zu wissen, wie wir der Dummheit beikommen können, müssen wir ihr Wesen zu verstehen suchen. Soviel ist sicher, daß sie nicht [wesentlich] ein intellektueller, sondern ein mensch- licher Defekt ist. Es gibt intellektuell außerordentlich bewegli- che Menschen, die dumm sind, und intellektuell sehr Schwer- fällige, die alles andere als dumm sind. Diese Entdeckung ma- chen wir zu unserer Überraschung anläßlich bestimmter Situa- tionen. Dabei gewinnt man weniger den Eindruck, daß die Dummheit ein angeborener Defekt ist, als daß unter bestimm-ten Umständen die Menschen dumm gemacht werden, bzw. sich dumm machen lassen. Wir beobachten weiterhin, daß abgeschlossen und einsam lebende Menschen diesen Defekt seltener zeigen als zur Gesellung neigende oder verurteilte Menschen undMenschengruppen. So scheint die Dummheit vielleicht weniger ein psychologisches als ein soziologisches Problem zu sein. Sie ist eine besondere Form der Einwirkung geschichtlicher Um- stände auf den Menschen, eine psychologische Begleiterschei- nung bestimmter äußerer Verhältnisse. Bei genauerem Zusehen zeigt sich, daß jede starke äußere Machtentfaltung, sei sie politi- scher oder religiöser Art, einen großen Teil der Menschen mit Dummheit schlägt. Ja, es hat den Anschein, als sei das geradezu ein soziologisch-psychologisches Gesetz. Die Macht der einen braucht die Dummheit der anderen. Der Vorgang ist dabei nicht der, daß bestimmte – also etwa intellektuelle – Anlagen des Menschen plötzlich verkümmern oder ausfallen, sondern daß unter dem überwältigenden Eindruck der Machtentfaltung dem Menschen seine innere Selbständigkeit geraubt wird und daß dieser nun- mehr oder weniger unbewußt – darauf verzichtet, zu den sich ergebenden Lebenslagen ein eigenes Verhalten zu finden. Daß der Dumme oft bockig ist, darf nicht darüber hin- wegtäuschen, daß er nicht selbständig ist. Man spürt es gerade- zu im Gespräch mit ihm, daß man es garnicht mit ihm selbst, mit ihm persönlich, sondern mit über ihn mächtig gewordenen Schlagworten, Parolen etc. zu tun hat. Er ist in einem Banne, er ist verblendet, er ist in seinem eigenen Wesen mißbraucht, mißhandelt. So zum willenlosen Instrument geworden, wird der Dumme auch zu allem Bösen fähig sein und zugleich unfähig, dies als Böses zu erkennen. Hier liegt die Gefahr eines diabolischen Mißbrauches, dadurch werden Menschen für immer zugrunde gerichtet werden können. […] Übrigens haben diese Gedanken über die Dummheit doch dies Tröstliche für sich, daß sie ganz und garnicht zulassen, die Mehrzahl der Menschen unter allen Umständen für dumm zu halten. Es wird wirklich darauf ankommen, ob Machthaber sich mehr von der Dummheit oder von der inneren Selbständigkeit und Klugheit der Menschen versprechen. “


Weiterführende Literatur:
*Brown, P., & Stokes, P. (2020). Bonhoeffer and Løgstrup: the Ethics of Disclosure in a State of Exception. Sophia, 59(2), 229–246. doi.org/10.1007/s11841-018-0683-4
*Huber, W. (2018). Dietrich Bonhoeffer. Zeitschrift Für Evangelische Ethik, 62(2), 148–150. doi.org/10.14315/zee-2018-0210
*Alston, W., & Welker, M. (1996). Dokumentation: Dietrich Bonhoeffer: Bisher unveröffentlichte Briefe an Paul Lehmann. Evangelische Theologie, 56(5), 465–475. doi.org/10.14315/evth-1996-0507
*Green, C. (2021). Dietrich Bonhoeffer’s Letter to Mahatma Gandhi. The Journal of Ecclesiastical History, 72(1), 113–121. doi.org/10.1017/S0022046920000093
*Weeks, G., & de Gruchy, J. W. (2001). The Cambridge Companion to Dietrich Bonhoeffer. German Studies Review, 24(1), 204. doi.org/10.2307/1433194
*Holder, R. D. (2009). Science and religion in the theorlogy of Dietrich Bonhoeffer. Zygon, 44(1), 115–132. doi.org/10.1111/j.1467-9744.2009.00989.x
*Peter-Dass, R. (2021). Bonhoeffer in India: An Embodied Theology of Public Engagement. Journal of Ecumenical Studies, 56(4), 504–520. doi.org/10.1353/ecu.2021.0037
*Meiring, P. (2007). Bonhoeffer in South Africa: Role model and prophet. Verbum et Ecclesia, 28(1), 150–165. doi.org/10.4102/ve.v28i1.101